Price Junge Positionen NRW 2017

Kunst im Zeichen der Linie

In einer Anekdote Plinius des Älteren über den Maler Apelles findet sich der Satz „Nulla dies sine linea!“ (Kein Tag sei ohne Linie!). Er beschreibt damit das Vorhaben Apelles‘ keinen Tag ohne eine nützliche Tätigkeit verstreichen zu lassen und täglich mindestens eine Linie zu ziehen bzw. einen Pinselstrich zu machen.
Eine Aufgabe, die sich auch Angelika Rauf zu Eigen gemacht hat, bildet die Linie doch gewissermaßen den Ausgangs- und Mittelpunkt ihres künstlerischen Schaffens. Mannigfaltig setzt sie die so einfach erscheinende Linie ein und erschafft so variantenreiche Einzelwerke und Serien. Dabei verwendet sie verschiedene Materialien, die von klassischen zeichnerischen Medien wie Papier, Graphit, Tusche und Fineliner bis hin zu Keramik oder Porzellan reichen.
Doch selbst in ihren dreidimensionalen Arbeiten liegt der Fokus auf der Linie, die mal wulstartig in Form von Ritzungen, Zeichnungen oder als Krakelee in der Glasur ihre Skulpturen überzieht. Die abstrakten Gebilde – ganz gleich ob organisch oder geometrisch ausgeformt – werden zum Träger der Linie und überführen diese aus der Fläche in den Raum. Ganz ähnlich verhält es sich bei Raufs Werken, die sich mit der Faltkunst des Origami bzw. der besonderen Technik des Miura-Ori befassen, die sie während eines Japan-Aufenthaltes kennenlernte. Dabei überführt die Künstlerin die eigentlich plastischen Objekte zurück in die Fläche und rückt die zurückbleibenden Linien in einer Serie von Knickzeichnungen in den Vordergrund.
Auch in ihrer Ausstellung Physische Zeichnungen auf der Künstlerzeche Unser Fritz in Herne lässt sich das Wechselspiel von Fläche und Raum – stets dem Grundprinzip der Linie folgend – nachvollziehen. So zeigt Angelika Rauf in der ehemaligen Schwarzkaue eine Reihe kleinformatiger Zeichnungen, die eine gewisse Tiefenräumlichkeit erzeugen. Feine, schwarze, gerade Linien werden eng aneinandergereiht, um sich partiell zu überlagern, sich zu kreuzen oder bisweilen nur einzelne, genau abgegrenzte Flächen zu bedecken. Wo sie aneinanderstoßen, eröffnen sie dem Betrachter Räume, ziehen ihn direkt in das Bild hinein oder scheinen nach außen zu treten. Wo sie sich kreuzen, entstehen dunklere Partien und lassen an das Spiel von Licht und Schatten denken.
Auf einigen Blättern erinnern die Linien an einzelne Fäden eines zart gewebten Gazebandes oder an Nylonstrümpfe, die sorgsam um das Papier gelegt wurden und so faszinierende und das Auge irritierende Muster und Überschneidungen ergeben. Dabei wirkt Raufs Arbeitsweise so akkurat, ja so präzise, als seien die Zeichnungen am Computer generiert und in der Folge ausgedruckt worden zu sein. Erst bei näherem Hinsehen lassen sich immer wieder kleine „Fehler“ erkennen, die beweisen, dass jeder Strich von Hand gezogen worden ist. Dabei sind es gerade diese Fehlstellen und der stärkere bzw. schwächere Druck auf Bleistift oder Fineliner, die den Arbeiten ihre Lebendigkeit verleihen. Man könnte fast sagen, dass sie dadurch in gewisser Weise belebt erscheinen und wodurch die Linien bei längerer Betrachtung partiell vor dem Auge zu tanzen beginnen oder unklar werden. Dies lässt sich besonders eindrücklich bei den farbigen Zeichnungen erleben, die im Durchgang zur Weißkaue präsentiert werden. Hier werden horizontale von diagonal verlaufenden Linien gekreuzt. Durch die eingesetzten, bisweilen unterschiedlichen Farben verschwimmen sie zu einem dichten Gewebe und macht es nahezu unmöglich dem exakten Linienverlauf zu folgen. Die Strenge der eigentlich geometrischen Komposition löst sich in diesen Zeichnungen komplett auf und erinnert vielmehr an klassische Farbmalerei – Linie wird zu Farbe, Farbe selbst zum zentralen Mittelpunkt der Malerei. Wie auch die ganz in schwarz-weiß gehaltenen Arbeiten strahlen die polychromen Zeichnungen eine fast meditative Wirkung aus, die zum Verweilen einladen und zur intensiven Betrachtung auffordern.
In der Weißkaue selbst zeigt Angelika Rauf dem Besucher ein ganz anderes Gesicht. Eine vergleichsweise dunkle, wilde Arbeit nimmt den gesamten Raum für sich ein – und das nicht nur wegen ihrer Länge von zehn Metern: ein Werk, das die Künstlerin speziell für diesen Ort geschaffen hat und das einen starken Kontrast zur ehemaligen Nutzung der Räumlichkeit bildet. Früher legten die Bergleute hier ihre Alltagskleidung an, Schmutz und Staub, den sie von unter Tage mitbrachten, sollte eigentlich draußen bleiben. Und doch erinnert dieses Werk – gerade hier – in gewisser Weise an die von Kohle geschwärzten Gesichter. Während ihrer Arbeit vor Ort, war sie selbst bedeckt vom schwarzen Staub, auch wenn er in diesem Fall nicht von der Kohle sondern von den unterschiedlich starken Graphitstiften kam, mit denen sie die Zeichnung geschaffen hat.
Diese, speziell für Herne konzipierte Arbeit gehört zur Werkgruppe der „Physischen Zeichnungen“, bei denen die Künstlerin ihren gesamten Körper zum Einsatz bringt und deren Dimensionen üblicherweise Raufs eigenen Körpermaßen entsprechen.
Anders als bei den kleinformatigen Zeichnungen, arbeitet die Münsteranerin hierbei mit beiden Händen gleichzeitig und bewegt sich unterdessen auf Knien in rhythmischen Bewegungen über das auf dem Boden liegende Blatt. Dabei variieren bestimmte Bewegungsmuster und erzeugen durch den parallelen Schwung der Arme von der Körpermitte heraus kreis- und ellipsenartige Formen. Durch den Einsatz verschiedenartiger Graphitstifte und die gleichförmigen Gesten verdichten sich die einzelnen Linien an bestimmten Stellen und bilden fast tiefschwarze Partien aus, während andere Flächen des Blattes weniger oder gar nicht bearbeitet werden. Doch selbst in den dunkelsten Partien lassen sich noch immer die einzelnen Linien durch die verschiedenen Reflexionen des Graphits erkennen und rhythmisieren diese. Auch lassen sich stellenweise die Rutschspuren der Knie entdecken, die den körperlichen Malprozess deutlich erkennen lassen.
Da die Bewegungen immer simultan ausgeführt werden, erscheint das Werk trotz der Kraft, die den einzelnen Linien immanent ist, ruhig und ausgeglichen. Dies liegt nicht zuletzt in der Symmetrie begründet, die durch die beidhändige Malweise entsteht und in entfernter Weise an ein Abklatschbild erinnert. Eine besondere Betonung erfährt der spiegelbildliche Eindruck durch das horizontal verlaufende und nahezu unbearbeitete, helle Band in der Mitte des Blattes. Manch einer mag sich an die mondbeschienene Oberfläche eines Gewässers erinnert fühlen, in dem sich Hügel und Berge widerspiegeln. Die Vermutung liegt nahe, dass die Künstlerin hier unterbewusst gespeicherte Erinnerung an die isländische Landschaft verarbeitet, wo sie bis kurz vor der Ausstellung einen mehrmonatigen Arbeitsaufenthalt verbracht hat.
Mit ihrer aktuellen Ausstellung aus Unser Fritz beweist Angelika Rauf, dass eine Linie viel mehr ist als ein bloßer Strich. Sie zeigt, dass einerseits eine rational und konsequent gezogene Linie das Auge sowohl beruhigen als auch irritieren kann. Andererseits lässt die Linie den Betrachter auch Teil am künstlerischen Prozess haben, wenn sie kraftvoll und mitreißend gesetzt wird und sie Ausdruck von Bewegung, Wille, Impuls und Gebärde ist.
Thomas Hensolt

Physisch Unser FritzPhysische Zeichnung halb linksPhysische Zeichnung halb rechtsPhysische Zeichnung links nahPhysische Zeichnung Anblick rechtsDOB_0912-BearbeitetDOB_0913-BearbeitetDOB_0920DOB_0905DOB_0898